Innenminister Thomas de Maizière über die Zwickmühlen bei der Verteilung von Flüchtlingen
Herr Minister, in der Bevölkerung scheint die erste Euphorie über die Flüchtlinge verflogen. Bekommen Sie das auch mit?
Ja, selbstverständlich. Aber die Lage ist vielschichtiger als das
durch solche Briefe vermittelte Bild. Vor Monaten hieß es noch überall,
die Menschen seien politikmüde, die Politik sei langweilig und
einschläfernd. Das Thema Asyl und Flüchtlinge hat das massiv geändert.
Viele, die sich nun sehr negativ äußern, zum Teil auch mit übelsten
Formulierungen, haben vielleicht vorher schon dasselbe gedacht. Daher
wissen wir nicht, inwieweit von solchen Äußerungen wirklich auf eine
Verschlechterung der Stimmung geschlossen werden kann oder ob nicht
einfach schon vorher bestehende Vorbehalte ausgesprochen werden.
Aber es gibt auch ehrliche Sorgen in ganz bürgerlichen Kreisen ...
Ja, das stimmt und hat mit den großen Zahlen auch zugenommen, auch
bei den freiwilligen Helfern selbst. Die fragen sich: Wie lange können
wir einen solch massiven Zustrom wie in den letzten Wochen noch
durchhalten? Und ich weiß, dass sich inzwischen verständlicherweise auch
eine gewisse Erschöpfung bei denen einstellt, die seit längerer Zeit im
Krisenmodus arbeiten. Man kann nicht pausenlos mit seiner Energie im
roten Bereich arbeiten. Da entsteht Frust.
Wie lange halten wir es als Gesellschaft aus, wenn täglich Tausende neue Flüchtlinge zu uns kommen?
Es gibt irgendwo eine faktische Grenze der Aufnahmekapazität. Es ist
ja derzeit schon schwer genug, allen Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf
zu besorgen. Noch schaffen wir das. Aber dann müssen ja weitere
Schritte folgen: kurze Verfahren, schnelle Entscheidungen, für die einen
dann ein schnelles Verlassen des Landes, für die anderen eine schnelle
Integration. Je größer die Zahl, desto schwieriger wird das. Es gibt
deshalb nicht nur eine Grenze der Aufnahmefähigkeit hinsichtlich der
Bettenkapazität, sondern auch im Hinblick auf Entscheidungs- und
Integrationskapazität, und deswegen arbeiten wir mit Hochdruck an
Lösungen, vor allem an den Außengrenzen der EU, mit den Transit- und in
den Herkunftsländern.
Machen Sie sich die Analyse von Horst Seehofer zu eigen, der gesagt
hat, es sei etwas gründlich aus den Fugen geraten? Man könnte
hinzufügen, womöglich auch deshalb, weil die Kanzlerin unabsichtlich
falsche Signale ausgesandt hat ...
Nein. Die Ungarn-Entscheidung war richtig. Wir hätten sonst die
gleiche Anzahl von Flüchtlingen nur ein paar Tage später bekommen, nur
eben mit schrecklichen humanitären Problemen, insbesondere in Ungarn.
Aber ich möchte daran erinnern, welche Begründung ich bei der
Wiedereinführung der Grenzkontrollen gegeben habe: Obwohl ich die
Entscheidung der Kanzlerin für richtig halte, habe ich gesagt, dass wir
wieder Ordnung ins Verfahren bringen müssen, die wir bei solch großen
Zahlen auch aus Sicherheitsgründen brauchen.
Haben Sie Befürchtungen, dass wir uns auch kriminelle oder terroristische Gefahren ins Land holen?
Wir können das nicht ausschließen. Wir bekommen zum Teil auch
Hinweise darauf. Jedem gehen wir nach. Deshalb ist die Feststellung der
Identität so wichtig. Wir führen auch Befragungen durch. Es gibt auch
unter den Flüchtlingen Verdächtigungen. Auch denen gehen wir nach. Aber
bislang gibt es keine Bestätigung für eine solche Art der Bedrohung.
Aber wir müssen wachsam bleiben.
Viele Menschen verstehen vor allem einen Sachverhalt nicht: Warum
nehmen wir Flüchtlinge auf, die wir rechtmäßig abweisen könnten, weil
sie offenkundig aus einem sicheren Drittstaat kommen?
Die EU-Staaten hatten in Dublin vereinbart und einen entsprechenden
Rechtsrahmen beschlossen, dass das Asylverfahren in der Regel dort
durchzuführen ist, wo der Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden
betritt. Das ist derzeit meistens Griechenland. Nach den Dublin-Regeln
besteht die Möglichkeit, die Asylbewerber - nach einem Verfahren -
dorthin zurückzuschicken. Dazu müssen aber Identität und Reiseweg
geprüft und mit dem betroffenen Land die Rücknahme vereinbart werden.
Das geht nicht einfach so an der Grenze. Hinzu kommt: Weil in
Griechenland viele Flüchtlinge nicht gut behandelt worden sind, haben
die Gerichte uns auferlegt, keine Dublin-Fälle nach Griechenland
zurückzuschicken. Das ist sehr ärgerlich, denn viel Geld ist nach
Griechenland gegangen, um die Zustände bei der Aufnahme von Flüchtlingen
zu verbessern.
Was viele irritiert: Wenn von Gewalt in Aufnahme-Einrichtungen die
Rede ist, rückt zum Beispiel die ethnische Gruppe der Albaner ins
Blickfeld. Warum sind diese Menschen überhaupt noch hier?
Wir haben in der vergangenen Woche mit dem von mir vorgelegten
Gesetzespaket energische Maßnahmen ergriffen, die das Ziel haben, den
Zustrom, gerade aus den Balkanstaaten wie Albanien, zu stoppen. Vielen
von dort war klar, dass sie hier keine Bleibechance haben. Aber sie
haben es dennoch versucht. Und unsere Verfahren waren so lang, dass die
Zwischenzeit für sie attraktiver war als ihre Situation zu Hause. Wir
sorgen dafür, dass das aufhört: Zum Beispiel das Taschengeld, immerhin
143 Euro pro Monat, hat einen Sogeffekt ausgelöst. Stattdessen gibt es
nun möglichst Sachleistungen. Wer aus einem sicheren Herkunftsland
kommt, bekommt ein Beschäftigungsverbot. Und die Asylbewerber aus diesen
Ländern werden verpflichtet, in den Erstaufnahme-Einrichtungen zu
bleiben, bis ihr Verfahren abgeschlossen ist. Dann können sie auch
leichter abgeschoben werden. Und: Denen, die vollziehbar
ausreisepflichtig sind und die Ausreisefrist verstreichen lassen, wird
die Leistung auf null gesetzt. Unser Gesetzespaket sieht auch vor, dass
die Abschiebungen nicht mehr vorher angekündigt werden sollen, damit
sich niemand vorab entziehen kann.
Wie viele Menschen sind abschiebbar und leben noch hier?
Gut 190 000 Menschen sind ausreisepflichtig, aber 138 000 haben den
Status einer Duldung. Also gut 52 000 müssten ohne Wenn und Aber gehen.
Ich erkenne, dass sich die Bundesländer mehr Mühe geben, die
Abschiebungen auch durchzusetzen. Wir haben im ersten Halbjahr 2015
bereits knapp doppelt so viele Abschiebungen wie im gesamten vergangenen
Jahr. Auch wenn das im Einzelfall harte Entscheidungen sein mögen: Wir
kommen nicht daran vorbei.
Wirkt es nicht gewaltfördernd, wenn Bewerber aus sicheren Drittstaaten in Erstaufnahme-Einrichtungen bleiben?
Ja, aber was folgt daraus? Es gibt keine heile Welt. Wenn wir alle,
auch die aus sicheren Herkunftsländern, sofort dezentral verteilen, dann
können wir die Verfahren nicht beschleunigen und bekommen diese
Menschen nicht mehr abgeschoben. Die Zeit für diese Personengruppe in
den zentralen Einrichtungen ist sicher nicht sehr gemütlich. Das muss
man in Kauf nehmen. Ich kann nachvollziehen, dass junge Männer, die
Langeweile haben, auf dumme Gedanken kommen. Aber ich habe kein
Verständnis dafür, wenn Menschen, denen wir mit viel Aufwand und Einsatz
Schutz gewähren, selbst aggressiv werden, ihre internationalen
Konflikte auf unserem Boden fortsetzen oder Helfern gegenüber
gewalttätig werden - das ist nicht in Ordnung, dem muss man hart
entgegentreten.
Steht uns durch die Ereignisse in Afghanistan eine Flüchtlingswelle bevor?
Afghanistan gehört seit längerem zu den am meisten vertretenen
Herkunftsländern. Das ärgert mich wirklich, schließlich sind wir seit
mehr als zehn Jahren mit Soldaten und Polizisten dort, um das Land zu
stabilisieren. Wir haben mit dafür gesorgt, dass Wahlen stattfinden, wir
haben für Bildungschancen gesorgt. Natürlich müssen wir uns um
diejenigen großzügig kümmern, die deswegen gefährdet sind, weil sie in
dieser Zeit aktiv für uns gearbeitet haben, etwa als Dolmetscher für
Soldaten oder Polizisten. Diese Menschen sollten wir großzügig zu uns
holen und nicht erst auf eine gefährliche Reise schicken, wo sie der
Willkür von Schleusern ausgesetzt sind. Aber dass jetzt viele Menschen
zu uns kommen, die dort dringend gebraucht werden, um das Land wieder
aufzubauen, die auch gar nicht aus Taliban-Gegenden kommen, sondern aus
Kabul, einfach weil sie das Vertrauen in das Land verloren haben - das
ist nicht in Ordnung. Deshalb werden die Anträge von Asylbewerbern aus
Afghanistan genau geprüft.
Es gibt eine aktuelle Debatte über eine Ausnahmeregelung beim Mindestlohn für Flüchtlinge. Was halten Sie davon?
Nicht viel. Das würde nur zu neuen Verteilungsdebatten führen
zwischen denen, die jetzt im Mindestlohn arbeiten, und den Flüchtlingen.
Wollen wir wirklich Debatten nach dem Muster: Ich, der ich gerade
Mindestlohn bekomme, werde jetzt entlassen, damit ein Flüchtling meine
Arbeit billiger macht? Das sollten wir lassen.
Ist ein Erstarken populistischer Parteien angesichts der aktuellen Debatten unausweichlich?
Die Versuchung ist sicher groß. Wir müssen dem entgegen wirken. In
einer solchen Situation ist eine große Koalition hilfreich. Es wäre
falsch, denen von Rechtsaußen nach dem Mund zu reden. Damit macht man
sie nur stark. Aber die Sorgen der Menschen müssen wir ernst nehmen. Die
Bürger wissen, dass die Lage schwierig ist und nicht mit einer
Hauruck-Aktion gelöst werden kann. Wir brauchen Geduld.
Aber deshalb denke ich, dass das Vertrauen in die Parteien, die das
Land im Wechsel über Jahrzehnte ganz gut regiert haben, gerade wegen der
schwierigen Situation höher ist als das Zutrauen zu den
Sprücheklopfern.
- wie die Politik ein ernsthaftes Problem in unverantwortlicher Weise zur Herausforderung umettikettiert und zur Chance schönredet.
Stichworte
1945
Abschiebung
AfD
Afghanistan
Afrika
Albanien
Algerien
Alltag
Amok
Angst
Ankerzentrum
Anschlag
Araber
Arbeit
Arbeitslosigkeit
Armut
Asylbewerber
Asylrecht
Ausbildung
Australien
Baden-Württemberg
Balkan
Bayern
Belgien
Bergneustadt
Berlin
Betrug
Bevölkerung
Bildung
BKA
Bonn
Brandstiftung
Braunschweig
BRD
Bulgarien
Bundespolizei
Bundespräsident
Bundeswehr
CDU
Clan
CSU
Dänemark
Demographie
Demonstration
Desinformation
Diskussion
Drogen
Dublin-Abkommen
Duisburg
Düsseldorf
Ehre
Einwanderungsgesetz
England
Enteignung
Eritrea
EU
Familie
Fazit
Flucht
Flüchtlinge
Frankfurt
Frankreich
Gabriel
Gefängnis
Gericht
Geschichte
Gesetz
Gesundheit
Gewalt
Grenzsicherung
Griechenland
Großbritannien
Grüne
Hamburg
Helfer
Hessen
Hilfe
Hotspot
Hunger
Integration
Irak
Iran
IS
Islam
Israel
Italien
Jugendliche
Kanada
Katastrophe
Kinder
Kindergeld
Kirche
Klima
Köln
Konkurrenz
Kontrolle
Körperverletzung
Kosovo
Kosten
Krankheit
Krieg
Kriminalität
Kritik
Kroatien
Kultur
Kurden
Leserbrief
Libanesen
Lüge
Lybien
Marokko
Mazedonien
Medien
Merkel
Messer
Mexiko
Migranten
Mittelmeer
Mord
negativ
Niederlande
Niedersachsen
Nordafrikaner
Notunterkunft
NRW
Obdachlose
Oberberg
Opfer
Österreich
Osteuropa
Palästinenser
Pflege
Politik
Polizei
Presse
Problem
Quote
Raub
Rechtsextremismus
Regierung
Registrierung
Religion
Roma
Route
Rückkehr
Ruhrgebiet
Rumänien
Ründeroth
Russland-Deutsche
Salafisten
Saudi Arabien
Saudi-Arabien
Scheitern
Schleswig-Holstein
Schleuser
Schule
Schulpflicht
Schweden
Schweiz
Seehofer
Seenotrettung
Serbien
Slowenien
Sozialleistungen
Spanien
SPD
Spenden
Sprache
Statistik
Steuer
Studie
Südosteuropa
Syrien
Tafel
Terror
Toleranz
Totschlag
Tradition
Tunesien
Türkei
Türken
Umfrage
UN
Ungarn
Urteil
USA
Vergewaltigung
Vertreibung
Vorurteile
Wachstum
Wahlen
Waldbröl
Werte
Willkommenskultur
Wirtschaft
Wohnraum
Zuwanderung
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen