Ein trostloser Ort. Fares Azez will auch nur kurz bleiben. Zwei oder drei Stunden. Essen, vielleicht duschen. Dann will der Mann mit seiner Familie aus dem syrischen Kobane weiter. Noch 100 Meter sind es bis in das Europa, das EU heißt. Auch Ahmad Sarbast, Karo Bilbaz und Mustafa Aziz wollen in dieses Europa, nach Deutschland oder England. Drüben auf der anderen Seite der serbisch-kroatischen Grenze ist in Kroatien schon das tiefblaue EU-Emblem zu sehen.
Aber noch befinden sich Azez und die anderen aus der syrisch-irakischen Flüchtlingsgruppe auf dem Gelände einer vor zehn Jahren geschlossenen Kinder-Rehaklinik auf serbischem Staatsgebiet. Jetzt ist die ehemalige Reha-Einrichtung wieder geöffnet - für Flüchtlinge und deren Bedarf an Rehabilitierung, der groß ist. Hier in Sid gibt es Weißbrot, Äpfel, Fisch aus der Konserve.
In Belgrad wird der Ministerpräsident des EU-Anwärters Serbien, Aleksandar Vucic, sagen, sein Land behandle die Flüchtlinge "normal" und erfülle dabei EU-Standards. Doch die Anziehungskraft der Republik Serbien auf Flüchtlinge und Asylbewerber ist derart schwach, dass nach Angaben von Ivan Miskovic vom serbischen Flüchtlingskommissariat in diesem Jahr gerade mal 16 Anträge auf Asyl anerkannt worden sind und nur 600 Bewerber überhaupt ins serbische Asylverfahren wollten - von bislang insgesamt 200 000 Flüchtlingen, die 2015 registriert ins Land gekommen sind. Miskovic sagt: "Wir sind ein Transitland." Azez, Sarbast, Bilbaz und Aziz wollen auch nur das: den Transit durch Serbien und weiter nach Deutschland. Serbien lässt sie gerne ziehen. Vucic antwortet in Belgrad auf die Frage, ob ihm Bundeskanzlerin Angela Merkel eventuell etwas versprochen habe, beispielsweise die deutschen Grenzen für den Flüchtlingsstrom nicht zu schließen: "Ich bin nur ein kleiner Mann. Frau Merkel hat mir gar nichts versprochen."
Azez und die anderen Syrer und Iraker haben alle ihre Geschichte. Sie sind seit Wochen auf der Flucht - vor Krieg oder vor der Willkür der radikal-islamischen Terrororganisation Islamischer Staat. Sie haben für Schleuserdienste Zehntausende Euro und Dollar bezahlt, haben Autos und Häuser verkauft, lassen sich von Verwandten, die Zuhause geblieben sind, Geld an Wechselstuben auf ihrem Weg durch Europa überweisen. In einer Stunde will Azez das einstige Kinderkrankenzimmer in Sid wieder verlassen. Eine Stunde Fußweg ist es bis zur nächsten Busstation in Kroatien. Von dort soll es weiter nach Wien gehen. Und dann im Zug nach Deutschland. Es ist ihr Transit zurück ins Leben.
Nebojsa Basnic will nicht nach Deutschland. Basnic, Mitglied der Minderheit der Roma, hat es mit Frau und vier Kindern unlängst auf der Lebensqualität-Skala deutlich nach oben geschafft. Vor wenigen Wochen tauschte Familie Basnic ihre bisherige Container-Behausung in einem Belgrader Trabantenviertel gegen eine 77-Quadratmeter-Wohnung in einem EU-geförderten Hausprojekt für Roma. Vier Zimmer, Küche, Bad, Warmwasser, Heizung. Auch wenn 30 Kilometer und einige Welten zwischen ihnen liegen, teilen Müllsammler Basnic und Ministerpräsident Vucic eine bemerkenswerte Einschätzung: Roma, die in Deutschland Asyl beantragen, kommen nicht aus politischen Gründen, sondern wegen des Geldes, sagen Vucic und Basnic unabhängig voneinander. Roma-Angehöriger Basnic geht sogar noch weiter und behauptet, die Roma in Serbien würden weder verfolgt noch diskriminiert oder auch nur benachteiligt. Regierungschef Vucic wiederum hat immer wieder wissen lassen, Deutschland möge die Unterstützung für Asylbewerber aus Serbien, vornehmlich Roma, reduzieren, weil jeder Asylantrag für Roma ein lohnendes Geschäft sei. 400 Euro betrage der Monats-Durchschnittslohn in Serbien. Und wenn eine Roma-Familie monatlich für die Dauer des Asylverfahrens 900 Euro bekomme, könnten sie davon nachher in Serbien einige Zeit passabel leben. In manchen Fällen, erzählt Basnic, reiche es sogar für ein Haus in der Vojvodina, das schon für 8000 Euro seinen Besitzer wechsele. Aus mehreren Asylanträgen in Deutschland werde so also Immobilien-Besitz in Serbien. Angeblich.
Weil dies auch eine Geschichte über die Wahrheit ist, die auf dem Balkan schwer zu finden ist, sagt Sozialarbeiterin Jovana Vukovic, die ein regionales Zentrum für Minderheiten in Belgrad koordiniert, etwas später, Roma-Angehöriger Basnic wisse gar nicht, was er da erzähle. Für viele Roma in Serbien sei Diskriminierung derart Teil ihres gesamten Lebens, dass sie diese Benachteiligung schlicht nicht mehr wahrnehmen: gelebte Normalität. Wenn sie in Schwimmbäder nicht reingelassen würden, weil sie Roma seien, oder kein Arzt sie behandele: normal. Wenn sie auf offener Straße angegriffen würden: normal. Wenn sie in der dritten und vierten Generation keine Ausbildung für ein später auskömmliches Einkommen hätten: normal.
Vucic ist von den Roma thematisch wieder bei der Flüchtlingskrise angelangt. Unlängst hat er sich persönlich im Aufnahmelager Sid umgesehen. Er sei selbst Sohn eines Flüchtlings, erzählt der Regierungschef. "Flüchtlinge gehören zu unserer Geschichte", sagt Vucic und verweist darauf, dass sein Land die durchreisenden Syrer, Iraker und Afghanen, wie gesagt, "anständig" behandle. In dieser Geschichte über die Wahrheit erzählt Nikola Kovacevic vom Belgrader Zentrum für Menschenrechte, dass Vucic vielleicht ein wunderbarer Redner sei, aber Serbien den Flüchtlingen sogar das Geld für das Eisenbahnticket für den Transfer durchs Land abnehme. Aber in Deutschland ist Bahnfahren für Flüchtlinge kostenlos.
- wie die Politik ein ernsthaftes Problem in unverantwortlicher Weise zur Herausforderung umettikettiert und zur Chance schönredet.
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