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Montag, 22. Februar 2016

Hotspot auf der Insel

Griechenland. Sein Händedruck ist fest, ganz so wie man es von einem Mann wie ihm erwartet. Babis Lolos, 44, Oberstleutnant des griechischen Heeres, grüne Augen, braun gebranntes Gesicht, sportlicher Typ, schaut auf seine Uhr. Es ist 8:34 Uhr an diesem frühlingshaften Tag Mitte Februar, ein paar Kilometer südlich des Hauptortes der Insel Chios in der Ost-Ägäis. Sein Arbeitstag beginnt, sein Handy wird fortan ständig klingeln. Er hebt immer ab, er hört stets aufmerksam zu, er hilft, er gibt Anweisungen. Alle wollen etwas von ihm. Babis hier, Babis dort. So gehe das den ganzen Tag über, manchmal komme er auch in der Nacht nicht zur Ruhe. Wenn hier "viel los" sei, wie er hinzufügt. Er meint: Immer wenn ein neuer Schub Flüchtlinge und Migranten auf Chios angekommen ist.
Lolos leitet den gerade eröffneten Hotspot auf Chios. "Sagen wir besser: Ich bin der Koordinator", korrigiert er. Und Babis Lolos hat alle Hände voll zu tun. Im Hotspot Chios sind neben Lolos und drei weiteren Offizieren der griechischen Streitkräfte noch mehrere einheimische Polizisten sowie aktuell 86 Mitarbeiter der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Mitarbeiter des Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) sowie 18 Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte der Welt, das spanische Rote Kreuz oder Caritas tätig. Arbeitssprache: selbstredend Englisch. Nach einer kurzen Pause sagt Lolos mit fester Stimme: "Wir schaffen das." Er klingt wie Merkel. "Wie lange, Babis?" "Ich weiß es nicht", antwortet er. "Ende offen." "Hotspot". Das ist das neue Zauberwort in der Flüchtlingskrise, die Europa in ihren Grundfesten erschüttert. Griechenland hatte sich schon im Oktober dazu verpflichtet, fünf solcher Hotspots - Registrierungszentren und Erstaufnahmelager für Flüchtlinge und Migranten in einem - in der Ost-Ägäis zu errichten. Auf Lesbos, Samos, Leros, Kos und eben in Chios. Schon Ende vorigen Jahres sollten alle fertig sein. Doch daraus wurde nichts. Erst als die EU die Athener Regierung medienwirksam tadelte, legten sich die Griechen ins Zeug. Dem Einsatz des griechischen Militärs und von Ingenieuren der Polizei rund um die Uhr sei Dank: In nur zwei Wochen bauten die Griechen die Hotspots - pünktlich zum jüngsten EU-Gipfel. Nur auf Kos sorgen massive Proteste von Bürgern für Verzug. Sie befürchten einen Einbruch des Tourismus, im Gegensatz zu den anderen Inseln der praktisch einzigen Einnahmequelle auf Kos. Anders in Chios. "Wir haben die einheimische Bevölkerung auf den Hotspot vorbereitet. Alles muss mit Organisation und Plan getan werden. Dann zeigen die Menschen Verständnis", sagt Chios' Bürgermeister Manolis Vournous.
Die EU verspricht sich viel von den Hotspots. Sie sollen den gewaltigen Flüchtlingsstrom aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderswo nach Mittel- und Nordeuropa kontrollieren, ihn optimal kanalisieren, am liebsten begrenzen. So lautet jedenfalls die Theorie. Unstrittig ist: Griechenland spielt dabei eine Schlüsselrolle. Kein Wunder: Rund 850 000 Flüchtlinge und Migranten strömten 2015 nach Hellas. Seit Jahresbeginn waren es mehr als 80 000 - ein Vielfaches im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das Gros kam über die griechisch-türkische Seegrenze. Nach Lesbos verzeichnete Chios, nur fünf Seemeilen vom türkischen Festland gelegen, im Rekordjahr 2015 den stärksten Flüchtlingsandrang: 125 000 Menschen. 2014 waren es noch lediglich 6500. Der Hotspot auf Chios liegt zwischen Olivenhainen und kleinen, malerischen Dörfern auf einer leichten Anhöhe gut acht Kilometer südlich vom Hauptort und Hafen der Insel. Auf einem alten Fabrikgelände, wo früher Aluminium hergestellt wurde und das nun der Stadtverwaltung von Chios gehört, stehen jetzt im Hotspot 67 kleine Fertighäuser mit insgesamt 600 Betten. Alle haben Fenster, Klimaanlagen, Warmwasser, Feuerlöscher. Baukosten bisher: 1,2 Millionen Euro, finanziert auf griechische Staatskosten. Der weitere Ausbau läuft schon auf Hochtouren. Ob Elektriker oder Klempner: Überall sind Handwerker im Einsatz. Geplante Kapazität nach dem Ausbau: 1500 Menschen. Die Neuankömmlinge sollen hier höchstens 72 Stunden bleiben. Ein Zaun ist um das knapp 3000 Quadratmeter große Areal gezogen, am einzigen, stets bewachten Eingang steht ein Gitter, aber ohne Schloss. Der Hotspot sei zwar immer bewacht, bleibe aber jederzeit offen, wie Babis Lolos betont. "Wir schließen nie. Alle Flüchtlinge und Migranten werden hier registriert. 100 Prozent. Sie müssen alle sechs Schritte der Registrierung durchlaufen. Danach können sie den Hotspot jederzeit verlassen." 
Die "vollständige Registrierung" ist das, was einen Hotspot ausmacht. Das Herz des Hotspots in Chios schlägt in einem großen Gebäude. Schon früh herrscht hier Hochbetrieb. Viele Frauen sind da, fast alle tragen Kopftücher, ferner viele Kinder, Männer, auch alte. Sie wirken müde, zugleich erleichtert nach der gefährlichen Fahrt von der türkischen Küste in zumeist überfüllten Booten. Gesamtdauer der Registrierungsprozedur: rund eine halbe Stunde. Schritt eins: Zuerst werden Karteikarten verteilt, die auszufüllen sind. Name, Geburtsdatum, Herkunft. Schritt zwei: Anstehen. Schritt drei: Mit Hilfe eines Übersetzers folgt ein persönliches Interview, im Fachjargon Screening genannt, Passkontrolle inklusive, falls Dokumente vorhanden. Meist wird schon in diesem Stadium der Registrierung deutlich, woher die Menschen genau stammen, ob sie Kriegsflüchtling sind oder Wirtschaftsmigrant. Noori Shaatat, Anfang 60, klein, graue Haare, Dreitagebart, ist Syrer kurdischer Abstammung. Er trägt ein blaues Armband. Alle, die heute ein blaues Armband tragen, sind gestern angekommen. Noori ist in Gruppe 19 eingeteilt. Die Gruppe 19 ist 62 Personen stark, angekommen auf Chios am Mittwoch um 13:25 Uhr. So steht es auf einer Tafel mitten in der Halle. Gerade läuft die Registrierungsprozedur von Gruppe 19. Noori Shaatat hat schon Schritt vier hinter sich: Ein Foto von ihm ist gemacht und im Computer gespeichert worden. Nun kommt der wichtigste Schritt der Registrierung: Fingerabdrücke werden abgenommen, auf den Eurodac-Geräten. Andreas A., Deutscher, Atemschutzmaske, Handschuhe, sei eine, wie es im besten Beamtendeutsch heiße, "Organleihe" an Frontex, wie er lachend erzählt. Der Polizeibeamte aus Düsseldorf ist jetzt Fingerabdruck-Experte im Hotspot Chios. Sechzehn Mal muss Noori seine Finger oder Handfläche auf das Eurodac-Gerät legen. Alles wird digital gespeichert, alles ist künftig europaweit von den Polizeibehörden abrufbar. "Mit dem persönlichen Foto, Fingerabdrücken und allen sonstigen Daten erreichen wir eine faktisch 100-prozentige Genauigkeit, um die Identität einer Person sofort zu erfassen und abgleichen zu können. Um welche Person handelt es sich? War sie schon einmal in Europa? Wo genau?", erklärt Andreas. Das sei nicht nur im Kampf gegen Terror, sondern auch zur Bekämpfung von Sozialbetrug in den Zielländern von großer Bedeutung. 
 Im Hotspot Chios sind an diesem Morgen alle sechs Eurodac-Geräte in Betrieb, weitere stünden jederzeit zur Verfügung. Nun folgt der letzte, der sechste Schritt: das "offizielle Dokument" der griechischen Regierung. Es wird am PC ausgedruckt und dem Neuankömmling übergeben. Noori Shataat zeigt das ominöse Blatt. Darauf steht, wie lange er in Hellas bleiben darf, nur auf Griechisch allerdings. Noori Shataat darf sechs Monate bleiben, weil er Syrer ist. Wäre er Wirtschaftsmigrant beispielsweise aus Marokko, dürfte er nur einen Monat bleiben. Egal. Das Motto lautet sowieso: Bloß weg aus Griechenland! Die beliebtesten Zielländer: Deutschland, seltener Schweden. Der Hotspot Chios hat zwei sogenannte Registrierungslinien mit ihren jeweils sechs Schritten. Maximale Registrierungskapazität: täglich 1050. Bei Bedarf könnten die Abfertigungen auf das Vierfache gesteigert werden. Ein Frontex-Mitarbeiter, Italiener, sucht Babis Lolos auf. Er hält einen Zettel in der Hand. Darauf stehen Zahlen. "Babis, da kommt heute einiges auf uns zu. Seit Mitternacht sind 925 angekommen." Babis Lolos nickt und sagt leise: "Es gibt Momente, da spüre ich zum ersten Mal in meinem Leben Stress. Und es gibt Momente, da bin ich gerührt, kann meine Gefühle nur schwer beherrschen. Besonders wenn man die vielen Kinder sieht, die dem Krieg entronnen sind."

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