Bergneustadt. "Mama?" Der 16-Jährige im Jeansladen betrachtet sich und seine neue Hose kritisch im Spiegel und sucht fragend den Blick von Reinhild Vedder. "Sie passt", sagt sie und nickt, und "Papa" Hans Vedder geht schon mal in Richtung Kasse. Eine ganz normale Alltagssituation - hieße der "Sohn" nicht Habibulla und käme aus Afghanistan.
Seit neun Wochen lebt der Jugendliche in einer Gastfamilie in Bergneustadt, und gleich am ersten Tag durfte er sich neue Kleidung aussuchen. Vor drei Wochen hat er mit dem ebenfalls 16-jährigen Ali Reza einen "Bruder" bekommen, und beide krempeln gerade das Familienleben der Vedders gründlich um.
Die beiden Jugendlichen gehören zu den 77 unbegleiteten Minderjährigen, die vom Kreisjugendamt zurzeit betreut werden, 13 von ihnen leben wie Ali Reza und Habibulla in Gastfamilien.
Ali Reza verlor seine Familie auf der Flucht
Reinhild Vedder wollte helfen. Einmal in der Woche engagiert sie sich wie auch ihr Mann ehrenamtlich in der Erstaufnahme-Einrichtung in Nümbrecht-Bierenbachtal, aus christlicher Nächstenliebe, sagt sie. Ein schönes Zuhause haben die Vedders, Platz genug, keine eigenen Kinder. Aber einen jungen Mann aus einer anderen Kultur in die Familie aufnehmen? Rund um die Uhr mit einem vielleicht traumatisierten Jugendlichen leben, zwei Jahre lang, bis er volljährig ist? Da habe sie zunächst gezögert, gesteht Reinhild Vedder, "aber als wir Habibulla gegenübersaßen, da war nur noch Freude im Herzen".
Eine Woche später zog das neue Familienmitglied ein, seitdem liegen überall Bildkarten mit Alltagsgegenständen, ein Ohne-Wörter-Buch, eigentlich als Kommunikationshilfe für Globetrotter bestimmt, verschiedene Memoryspiele. Denn Habibulla spricht zwar mit Usbekisch, Türkisch, Urdu und Farsi vier Sprachen, aber nur wenige Wörter Deutsch. Die genügten ihm, um gleich am zweiten Tag in der neuen Familie deutlich zu machen, dass er sich sehnlichst einen Bruder wünschte - und so entschlossen sich die Vedders, auch seinen Freund Ali Reza aus der Erstaufnahmeeinrichtung zu holen.
Seitdem wird mit der Pflegemutter nachmittags intensiv Deutsch gelernt, vormittags besuchen die Jungen die Integrationsklasse der Hauptschule Bergneustadt.
Besonders Habibulla, der noch nie eine Schule besucht hat, lernt voller Begeisterung. Ali Reza, der immerhin vier Jahre zur Schule gegangen ist, muss sich noch ans frühe Aufstehen und den geregelten und durchorganisierten Tagesablauf gewöhnen. Gerade der sei wichtig, findet Hans Vedder, denn er vermittle Sicherheit und Geborgenheit. Denn die beiden haben sowohl in ihrem Herkunftsland und auf der Flucht Schlimmes erlebt. Besonders Ali Reza, der auf der Flucht von seiner Familie getrennt wurde und nicht weiß, was aus ihr geworden ist, leide spürbar, sagen die Gasteltern. Wenn es sprachlich zu schwierig wird und auch Gesten und Bilder nicht mehr ausreichen, vermittelt das Jugendamt einen Dolmetscher.
"Eine große Freude und Bereicherung"
Der hat zum Beispiel geholfen, als Hans Vedder von Anfang an deutlich machen wollte, dass das Wort seiner Frau ebenso viel gelte wie seines. Kein Thema - stellte sich in der Praxis schnell heraus, Reinhild Vedder kann das respektvolle Verhalten der beiden gar nicht genug loben.
Die meisten Situationen bewältigt man auch ohne Hilfe: So gibt es bei den Vedders zu Mittag kein Schweinefleisch, das Tischgebet ist ein christliches, aber es ist auch okay, dass Habibulla als Moslem in seinem Zimmer zu Allah betet. Ein neues Handy für Ali Reza? Dafür müsse man auch in Deutschland sparen, versucht der Gastvater dem jungen Mann zu vermitteln und ihn nebenbei im Umgang mit Geld zu erziehen.
Denn es gibt zwar eine Aufwandsentschädigung für die Gasteltern, "aber reich werden kann man damit nicht", betont Karin Kohl vom Kreisjugendamt, das die Vormundschaft über die Jugendlichen hat. Das Amt sucht noch dringend Pflegefamilien, demnächst muss man noch 43 weitere jugendliche Flüchtlinge aufnehmen.
Bei den Vedders steckt jeder Tag voller Herausforderungen. "Wichtig ist, dass man sich nicht selbst überfordert", sagt die Gastmutter. "Man muss sein Leben anders organisieren, auch Abstriche machen, denn es geht ja nicht nur um die Versorgung, sondern um die Integration, und dazu gehören die Sprache, der Kontakt zur Schule, zu Sportvereinen, zu anderen jungen Flüchtlingen, Arztbesuche. Es ist zeitaufwendig, aber es ist auch eine Freude und eine große Bereicherung." Was den Jungen in ihrer neuen Familie am besten gefällt? "Hier ist kein Krieg", sagt Ali Reza auf Farsi, und Habibulla übersetzt. Für ihn selbst sei Silvester der schönste Tag in seinem Bergneustädter Leben gewesen, fügt er strahlend und gestenreich hinzu. Als die Raketen in den Himmel schossen. Dabei hatten sich die Gasteltern deswegen solche Sorgen gemacht.
- wie die Politik ein ernsthaftes Problem in unverantwortlicher Weise zur Herausforderung umettikettiert und zur Chance schönredet.
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