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Freitag, 12. Februar 2016

Auf einsamem Posten

Duisburg. Markus Müller hat die Frühschicht gerade hinter sich gebracht, aber Entspannung stellt sich nicht ein. Sein Blick ist direkt und standhaft, ganz so, als würde man in zwei Taschenlampen schauen. Breite Schultern, Haare kurz rasiert, 120-prozentige Aufmerksamkeit. Eine Ausstrahlung, die sagt: "Mach' bloß keinen Scheiß!" Müller, 47 Jahre alt, arbeitet als Polizist in Duisburg-Marxloh, jenem Stadtteil, der es regelmäßig ohne Mühe in die Schlagzeilen schafft. Weil hier mal jemand auf offener Straße erstochen wird. Oder in einer Trinkhalle ein florierender Drogenhandel ausgehoben wird. Oder im Sommer auf der Hauptstraße 200 Menschen mit Migrationshintergrund aufeinander einprügeln. Wegen einer Nichtigkeit, eines falschen Blicks oder der "Familienehre".

Duisburg-Marxloh: 19 000 Einwohner, 64 Prozent von ihnen mit ausländischen Wurzeln, 16 Prozent Arbeitslosigkeit. "No-go-Zone" nannte die Gewerkschaft der Polizei das Viertel - eine Vokabel, die der eigenen Hilflosigkeit geschuldet war. Natürlich ist Marxloh kein Ghetto, in das sich niemand mehr hineintraut. Bäckerei, Sparkasse, Schnellimbiss: Überall brummt das Leben, überall sind auch Deutsche unterwegs. Mit der fürs Ruhrgebiet typischen Unaufgeregtheit wird hier Integration gelebt, ohne dass das Wort überhaupt fällt. Tausende türkische Gastarbeiter haben in den deutschen Wirtschaftswunderjahren im Duisburger Norden ihren Platz gefunden, ihre Nachfahren betreiben Geschäfte auf der Hochzeitsmoden-Meile in Marxloh oder anderswo. Dass selbst sie nun die Nase voll haben von den neuen, sozialen Umbrüchen, mit den Kindern in bessere Viertel abwandern, zeigt, wie gut Integration hier funktioniert hat. Bis vor Kurzem. "Ich arbeite seit 22 Jahren auf der Wache Hamborn", sagt Markus Müller, "aber in den letzten Jahren hat sich vieles zum Negativen entwickelt."
Über 2000 Straftaten hat die Polizei 2014 in Marxloh vermerkt, doch was für Anwohner zählt, findet ja oft gar keinen Eingang in die Kriminalstatistik. Rempeleien auf dem Bürgersteig, Weg-Versperren, Anspucken von Streifenwagen, Menschenansammlungen bei kleinsten Vorfällen, die schließlich eskalieren, Notärzte behindern, Polizisten in Bedrängnis bringen. "Mit dem ostentativen Griff an die Eier werden Frauen und Mädchen unverhohlen angestarrt, nicht-muslimischen Mädchen 'Hure' und 'Fick dich' hinterhergerufen", notierte ein Beamter unlängst in schonungsloser Sachlichkeit. Drei libanesische Familienclans haben Marxloh terrorisiert, bis Innenminister Ralf Jäger den tapferen Streifenbeamten 2015 eine Hundertschaft zur Verstärkung schickte. 38 Beamte in acht Streifenwagen unterstützen Müller und seine Kollegen nun. Stück für Stück erobern sie sich die Hoheit über Marxloh zurück. Bei "Zwischenfällen", wie Müller sie nennt, gibt es jetzt massive Präsenz. "Allein im ersten Halbjahr 2015 sind wir zu 250 Einsätzen mit mehr als vier Streifenwagen gefahren." Vor der Rückeroberung der Straße gilt es erst einmal, Kontrolle über die einzelne Situation zu bekommen. "Man muss sich das so vorstellen", sagt Müller, "dass der Polizist zu einem simplen Blechschaden gerufen wird, die Personalien aufnimmt und sich auf einmal mit einer riesigen Gruppe aggressiver Männer konfrontiert sieht." Unbeteiligte mischen sich ein, telefonieren Verstärkung hinzu, es wird geschubst, gepfiffen, provoziert, der Beamte von der wachsenden Gruppe eingekesselt. "Irgendwann stehen Sie mit dem Rücken zum Streifenwagen", sagt Müller.
Er drückt das Adrenalin dann weg, irgendwie. "Man agiert da bloß noch", sagt er. Manche Situation lässt sich nur mit einem Schlagstock retten oder mit dem drohenden Griff zur Schusswaffe. Die Unruhe, die bisweilen nach Feierabend hochkommt, versucht er kleinzuhalten. "Viele Kollegen haben sich versetzen lassen." Doch Müller war als junger Polizist vor 27 Jahren heiß auf Marxloh: "Ich wollte keinen Bürojob, ich wollte helfen." Heute ist er sich nicht mehr ganz so sicher, ob er noch Helfer ist oder Resterampe schiefgelaufener Integrationsarbeit. Michael Heming, 27 Jahre, gehört zu der Hundertschaft, die in Marxloh hilft. "Bislang fehlte einfach die Zeit, kleinere Dinge zu verfolgen", sagt er. Null Toleranz ist jetzt Strategie. Kippen schnippen, auf der durchgezogenen Mittellinie wenden, mit quietschenden Reifen anfahren - all die kleinen Formen der Respektlosigkeit ziehen jetzt Konsequenzen nach sich. Jede Ordnungswidrigkeit kostet Geld, und die Geldstrafe kann nur gegen Gefängnis getauscht werden. Das striktere Auftreten mit mehr Beamten hilft. Aggressive Massenansammlungen habe es in letzter Zeit kaum gegeben, sagen beide. Das kulturelle Missverständnis aber lässt sich nur in Schach halten, solange die Duisburger Polizei personelle Verstärkung durch die Hundertschaft hat. "Wir begrüßen die Menschen ja selbst nach Verstößen freundlich, nehmen ihre Personalien auf, festgenommen werden nur wenige", erklärt Heming, "so funktioniert unser Rechtsstaat, doch in Marxloh wird uns das eben als Schwäche ausgelegt."
Jene, die einem der drei großen libanesischen Clans angehören - wobei viele in Wahrheit Kurden sind, seien aus ihrer Heimat eben härtere Polizeimethoden gewohnt. Der nette Deutsche in Uniform genießt bei ihnen erst Ansehen, wenn auch er in Mannschaftsstärke auffährt. Dass der Respekt vor der Polizei fehlt, liegt auch an der überforderten, laschen Justiz. Bei größeren Delikten schreiben Müller und Heming eine Anzeige. Meist kommt es mangels Interesse der Staatsanwaltschaft gar nicht erst zum Verfahren, und wenn, dann erst Monate später. Im rohen Straßenkampf gegen Familienclans sind Staatsanwälte den Polizisten kaum eine Unterstützung. 18 Hundertschaften gibt es in NRW, Teile einer einzigen kümmern sich trotz vieler anderer Aufgaben Vollzeit um Marxloh. Aber: "Wir als Polizei können das nicht allein lösen", sagt Arnold Plickert, Chef der GdP in NRW. "Es muss in Integration investiert werden, in Bildung, in guten Wohnraum." Das sei in der Vergangenheit versäumt worden. "Gerade jetzt, da viele Asylsuchende in die Städte strömen, dürfen sich diese Fehler nicht wiederholen."
Dass die Polizei mehr Mitarbeiter braucht, predigt er seit Jahren. 3,6 Millionen Überstunden hat die Polizei NRW letztes Jahr geleistet - und bei der dünnen Personaldecke kaum eine Chance zu verschnaufen. 2000 Stellen sind seit 2003 verloren gegangen, kritisiert Plickert. Um in Ballungsräumen einigermaßen die Kontrolle zu behalten, bräuchte die Polizei 500 neue Angestellte, die alte Hasen aus der Verwaltung freisetzen würden für die Arbeit im Streifen- und Ermittlungsdienst - und zwar sofort. "Noch besser wäre es, jährlich 2000 neue Polizisten einzustellen. Die brauchen wir", betont Plickert. Illusorisch. Derweil schieben Müller und der junge Heming unverdrossen weiter Dienst. Müller hat 2015 bis auf vier Wochenenden jedes gearbeitet. "Man lernt hier was", sagt Heming, "wenn man wie Müller 22 Jahre in Marxloh unterwegs ist, dann hat man's drauf." Außer einer Ufo-Landung, sagt der Ältere, hätten sie in Marxloh schon alles gesehen. Bis Ende des Jahres bleibt die Verstärkung in Duisburg. Wie es dann weitergeht, weiß niemand.

LIBANESEN-CLAN
Bei der größten libanesischen Clan-Gruppe handelt es sich um die sogenannten Mhallamiye-Kurden . Ursprünglich lebten sie als kleine, gleich zweifach diskriminierte Minderheit in der Türkei. Sie fielen nicht nur als Kurden unter Türken auf, sondern auch als Arabischsprechende unter Kurdischsprechenden . In den 1920er bis 1940er Jahren wanderten sie daher in den Libanon aus. Nach Beginn des dortigen Bürgerkriegs kamen sie als Kriegsflüchtlinge vor allemin den 80er Jahren nach Deutschland - mit Schwerpunkten in Berlin, Bremen und Essen. Die historischen Erfahrungen haben bei ihnen eine extrem enge Verbindung innerhalb der Großfamilien und ein ebenso ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der Außenwelt erzeugt, schreibt der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghadban in einer Studie. Tief verwurzelt sei ein Stammesdenken, nach dem alles außerhalb der Sippe als Feindesland zu betrachten sei. Ihr Ziel sei, den Besitz der Sippe zu mehren. Die Mhallamiye-Kurden leben häufig in geschlossenen Strukturen, ihre Clans stehen häufig für organisierte Kriminalität . 

POLIZEI ANALYSIERT RECHTSFREIE RÄUME
In einer vertraulich eingestuften Clan-Analyse des Polizeipräsidiums Duisburg beschreiben die Beamten die problematischen Gruppen: "Die relevanten Gruppensetzen sich überwiegend aus den Jahrgängen 1990-1998 aus ausschließlich männlichen Mitgliedern zusammen. Beinahe 100 Prozent der Personen sind polizeilich bereits in Erscheinung getreten, wobei Raub, Diebstahl und Körperverletzung die vorherrschenden Delikte sind. Ein Großteil der Gruppen scheint untereinander in irgendeiner Weise vernetzt. So ist es nicht unüblich, dass man von unbeteiligten Gruppen in einem anderen Stadtteil zu einem Einsatz aus der Vergangenheit befragt wird. Nahezu alle Gruppen haben Kontakt zu Betäubungsmitteln. Es werden sehr regelmäßig Betäubungsmittel in Konsummengen aufgefunden. Bei Kontrollen werden immer häufiger Waffen und verbotene Gegenstände im Umfeld der Personen aufgefunden. Gleichzeitig hat sich die Bereitschaft, sich einer Kontrolle durch Flucht zu entziehen, noch einmal erhöht."

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