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Montag, 7. Dezember 2015

Zwischen Angst und Hoffnung

Siegburg. Als sein Reisepass zerrissen wird, weiß Salam S., dass sein altes Leben vorbei ist. Für immer. Das ist im Oktober 2011, der damals 16-jährige Iraker ist gerade aus seiner Heimat geflohen. "Ich hatte dort keine Chance auf ein normales Leben, auf die Schule, auf eine Ausbildung, auf eine Perspektive", sagt Salam. Also beschließt er, nach Deutschland zu fliehen, sein Cousin lebt in Siegburg. Als er zehn Tage später dort ankommt, ist er ein Präzedenzfall: Salam ist der erste unbegleitete minderjährige Flüchtling (siehe Infokasten), den die Kreisstadt aufnimmt.
Doch bis dahin ist es ein langer Weg für Salam: Denn der Kurde gehört der Religionsgemeinschaft der Jesiden an. Der heute 20-Jährige sagt zwar, er sei nicht aus religiösen Gründen geflohen. Doch Rupert Neudeck, Mitbegründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, berichtet von Gräueltaten, denen die Jesiden ausgesetzt sind. Salam erinnert sich noch gut an das Gespräch mit seinem Vater, als er seine Flucht aus Sharya ankündigt. Der sagt zu ihm: "Du kannst gehen." Der Vater organisiert die Flucht für seinen Sohn, ein weiterer Bruder flüchtet mit Salam. "Ich weiß gar nicht, was das alles gekostet hat, mein Vater hat alles geplant", sagt Salam. Der Vater drückt ihm schließlich einen Pass in die Hand, damit kommt er über die Grenze zum Nachbarstaat Türkei. Nicht mal eine Tasche nimmt er mit, nur Wasser und Schokolade, sagt Salam. In der Türkei sieht er, wie sein Pass zerstört wird. Sein altes Leben? Vorbei. Spätestens jetzt. Ein Schlepper nimmt sich seiner an, verfrachtet ihn auf die Ladefläche eines Lkw. Dort versteckt er sich mit weiteren 15 Leuten, viele Iraker und Syrer sind darunter. Eine Leidensgemeinschaft auf Zeit. Neun Tage dauert die Flucht mit dem Lastwagen. "Ich hatte ständig Angst, auch um mein Leben, die Ungewissheit war groß. Ich wusste oft nicht, in welchem Land ich gerade war", erzählt Salam. In Ungarn verlässt sein älterer Bruder ihn, steigt aus. Für den 16-Jährigen geht es alleine weiter. Mit dabei: Die ständige Angst, entdeckt zu werden. An Schlaf ist nicht zu denken. Hunger und Durst spielen auf dieser Reise ins Ungewisse eine untergeordnete Rolle. Jeden zweiten Tag habe es etwas Brot und Wasser gegeben, sagt Salam. Ab und an hält der Lastwagen für eine Toilettenpause - für zwei Minuten. Bloß keine Zeit verlieren. Neun Tage bangt Salam auf dem Lastwagen, ob er wirklich ankommt. Neun Tage voller Angst. Das Ende seiner Flucht ist am Hauptbahnhof Köln, dort verlässt Salam die Schicksalsgemeinschaft. "Die Freude und Erleichterung waren ziemlich groß. Aber es war auch alles neu, und ich musste Stück für Stück in das neue Leben reinfinden", sagt Salam. Er kontaktiert seine Eltern in der Heimat. Sie sind selig, ihr Sohn ist heil angekommen. Von Köln aus geht es für Salam sofort weiter zu seinem Cousin nach Siegburg. Und am 20. Oktober 2011 steht er bei Andrea Büser im Büro, sie kümmert sich bei der Stadt um die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Es ist Büsers Premiere. "Er war von Anfang an ein sehr angenehmer Mensch. Aber ich denke mit Schrecken an das erste Gespräch zurück, ich wusste erst mal gar nichts mit ihm anzufangen." Heute ist das anders, aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen in den vergangenen Jahren sei das Vorgehen routinierter. Büser übernimmt damals die Vormundschaft für Salam, der weiter bei seinem Cousin lebt. Salam lässt sich in Dortmund registrieren, beantragt Asyl. Und er beginnt Deutsch zu lernen in einem Kurs an der Hauptschule am Neuenhof. Später wechselt er auf das Berufskolleg Sieglar, bleibt dort insgesamt knapp zwei Jahre. Salam verlässt die Schule schließlich ohne Abschluss. Mittlerweile, sagt Salam, habe er die Aufenthaltsgenehmigung erhalten, arbeitet auf dem Bau als Eisenbieger. Sein Ziel: ein Ausbildungsplatz. In Siegburg. Die Kreisstadt ist seine neue Heimat. Seit zwei Jahren steht der 20-Jährige nicht mehr unter Büsers Vormundschaft. Und seit diesem Jahr ist Salam selbst Vormund: Sein 17-jähriger Bruder Basam ist im Mai gekommen, seine Schwester Aven, 16, im August. "Wenn man sieht, dass er jetzt selbst Vormund ist, erkennt man, dass er sich gut eingelebt hat", sagt Büser. Salam schaue noch öfter bei ihr vorbei, frage nach Dingen, die er nicht verstehe - etwa bei Behördendokumenten. Und er stellt einen Antrag auf Familienzusammenführung, will seine Eltern nach Deutschland holen. Bei der Frage, was ihn in Deutschland am meisten beeindrucke, lacht Salam, bevor er antwortet: "Mich fasziniert, wie organisiert die Menschen hier sind", sagt er. Ausländerhass habe er bislang nicht erlebt. Im Gegenteil: Salam fühlt sich sicher in seiner neuen Heimat - bis zu den Anschlägen von Paris. "Meine Angst ist wieder etwas da. Vielleicht können die Deutschen jetzt nachempfinden, was Terrorangst bedeutet." Aber er blickt nach vorne: "Ich will mir hier eine Zukunft aufbauen und meinen Weg finden." Seine Flucht hat er fast komplett hinter sich gelassen, nur selten denkt er noch daran: "Ich versuche, die Flucht zu verdrängen. Aber wenn es trotzdem hochkommt, versuche ich, mich abzulenken." Es ist seine Art, die Erinnerung zu bekämpfen. Die Erinnerung an zehn Tage der Entbehrung. Und der Angst.

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