Braunschweig. Seit Monaten sitzen Haug Schalk und Jörn Memenga vor roten Heftern mit Akten im Büro der Braunschweiger Polizei. Es sind viele Akten. Die Chefermittler der Braunschweiger "Sonderkommission Zentrale Ermittlungen" (Soko ZErm) haben mittlerweile mehr als 300 auf dem Schreibtisch. 300 Fälle von mutmaßlichem Sozialbetrug, bei denen sich Asylbewerber während der Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr Scheinidentitäten zugelegt haben. "Die haben sich einfach mehrfach registriert", sagt Jörn Memenga, Leiter der Soko ZErm, "teilweise bei den gleichen Mitarbeitern.
Aber in der Zeit waren alle sehr überlastet. Da ist das einfach nicht aufgefallen."
Das Problem: Zu der Zeit vor einem Jahr war die Landesaufnahmebehörde Braunschweig (LAB) überfüllt und jeden Tag kamen neue Schutzsuchende. Niemand wusste, wie viele es sein würden, niemand konnte planen. So war den Mitarbeitern der LAB vor allem daran gelegen, schnell und möglichst unbürokratisch zu helfen. "In dieser Phase wollten wir vor allem eines: Obdachlosigkeit vermeiden", so Standortleiter Michael Lewin. Daran, bei der Registrierung Fingerabdrücke zu nehmen, war nicht zu denken. Oftmals hatten die Asylsuchenden nicht einmal eigene Papiere bei sich, konnten alleine durch Nennung ihres Namens und der Nationalität einen vorläufigen Heimausweis bekommen. Alles was dann noch gemacht wurde, war ein Porträtbild für die vorläufigen Papiere. Damit schnell Platz für neue Ankommende geschaffen wurde, verteilte man die Registrierten auf Kommunen in ganz Niedersachsen.
Die Masche: simpel. Im Stress der damaligen Zeit reichte es anscheinend, sich einen Bart wachsen zu lassen, mal eine Brille aufzusetzen, mal einen Pullover und mal ein Hemd anzuziehen. Dann musste man sich nur noch unterschiedliche Namen einfallen lassen und verschiedene Geburtstage. Schon hatte man mehrere Identitäten. "Es waren ausschließlich Männer und vor allem Schwarzafrikaner, überwiegend aus dem Sudan", so Memenga weiter. Die sogenannten Alias-Identitäten führten dann dazu, dass eine Person nicht auf eine Kommune, sondern gleich auf mehrere verteilt wurde. Jeden Monat konnten die Asylbewerber dann Geld kassieren. Aufmerksamen Mitarbeitern der LAB fiel schließlich auf, dass einige Männer sich auf Fotos extrem ähnelten. Sie meldeten die Fälle der Polizei.
Das Gesetz und der Schaden: Laut Asylbewerberleistungsgesetz bekommt jeder Asylbewerber monatlich 135 Euro Taschengeld und 216 Euro zur Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfs, wenn er nicht - wie beispielsweise in der LAB - voll verpflegt wird. "Abzüglich der Kosten für Strom kam man dann auf ungefähr 320 bis 350 Euro pro Alias-Identität und Person", so Memenga. Er und seine Kollegen ermittelten, dass die kriminellen Männer im Schnitt drei bis vier Identitäten hatten. Schaden pro Person: ca. 5.000 bis 10.000 Euro. "Unser krassester Fall hat zwölf Alias-Personalien. Schadenshöhe: 45.000 Euro. Mindestens", erklärt Memenga.
Alles was die Männer machen mussten, war Monat für Monat zu allen Kommunen zu reisen, in denen sie registriert waren, und mit den jeweiligen vorübergehenden Ausweisen das der entsprechenden Identität zustehende Geld zu kassieren. Der daraus entstandene Schaden für den Steuerzahler alleine in Niedersachsen beträgt schätzungsweise drei bis fünf Millionen Euro.
Die Herausforderung für die ermittelnden Behörden: Bei mehreren Identitäten stehen die Beamten vor einem Berg von Arbeit. Wie ist der echte Name des Asylbewerbers? "Oft können wir das nicht mal abschließend sagen, weil wir nie richtige Papiere gesehen haben", sagt Memenga fast hilflos. Wo wohnen sie tatsächlich oder haben sie überhaupt einen Wohnort? Das ist wichtig, denn nur so kann eine verantwortliche Staatsanwaltschaft ausgemacht werden. Und selbst dann: "Ohne Aufenthaltsort kein rechtliches Gehör und keine Zustellung einer Anklage", sagt Julia Meyer von der Braunschweiger Staatsanwaltschaft. Auch Haftbefehle sind schwer zu bekommen, da die Beweislage oft nicht abgeschlossen oder so diffus ist, dass Richter keinen "dringenden Tatverdacht" sehen und somit keinen Haftbefehl aussprechen.
Die Folge: Die Männer tauchen ab, wenn sie mitbekommen, dass ermittelt wird. Die aktuelle Situation: "Sozialbetrug sollte heute eigentlich nicht mehr möglich sein", da ist sich Memenga sicher. Denn Asylsuchende werden mittlerweile wieder "ed-behandelt". Der Begriff steht für "Erkennungsdienstliche Behandlung" und meint vor allem, dass von jedem Flüchtling Fingerabdrücke genommen werden müssen. Nach und nach werden auch alle Asylbewerber aus dem vergangenen Jahr gebeten, das nachzuholen. Wer jetzt also noch Mehrfachidentitäten hat, muss diese unter den Tisch fallen lassen: "Denn Namen und Geburtstage kann man vielleicht fälschen", so der Braunschweiger Kommissar Memenga, "Fingerabdrücke aber nicht."
- wie die Politik ein ernsthaftes Problem in unverantwortlicher Weise zur Herausforderung umettikettiert und zur Chance schönredet.
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